Das Wunder von Waisach
Viele Pilger haben sich in der Vergangenheit gefragt, warum das Hieronymitaner-Hospiz Kloster Waisach genau an dem Ort gebaut wurde, wo es heute steht – nämlich in knapp 500 m Entfernung von der Pfarrkirche Waisach, die 1737 per Stiftungsbrief des Grafen Leopold Orsini-Rosenberg von der Pfarre Lind im Drautal abgetrennt wurde. Das Kloster trägt die Hausnummer Waisach 1, obwohl es räumlich zur Ortschaft Bruggen gehört, jedenfalls aber nicht – wie man hätte annehmen können – in direkter Nachbarschaft zur Ortschaft Waisach und seiner kleinen Kirche errichtet wurde.
Genauere Nachforschungen in den Landesarchiven brachten kein Ergebnis. Es existieren weder Pläne noch schriftliche Aufzeichnungen über die Beweggründe der Patres Hieronymitaner in Waisach zum Bau des Klosters gerade hier. Da entdeckten wir einen alten Kupferstich aus dem Jahre 1756, in dem von einer „andächtigen Verbündniß zur Beförderung standmäßiger Leibs und Seelen Reinigung“ durch die St. Hieronymusquelle in Weissach die Rede ist. Da kam uns die hierorts erzählte Geschichte vom Michelele in den Sinn, die von der wundersamen Rettung eines kleinen Buben berichtet, der von den Toten auferstanden ist.
Die Legende vom Michelele
Es begab sich zu einer Zeit, lange vor Kaiserin Maria Theresia, dass beim Badwirt in Bruggen ein Kind geboren wurde. Der kleine Bub hieß Michael und war von einer Anmut und Schönheit, dass sich nur jede Mutter erfreuen konnte – ein ruhiger und hellhäutiger Blondschopf, gewinnend im Wesen und aufgeweckt im Temperament. Aber das Kind war auch neugierig und durfte zu keiner Zeit unbeaufsichtigt gelassen werden, weil es gleich weglief und sich dann mit den Tieren unterhielt. Es war ein Einzelkind und ohne Spielgefährten, die Mutter ständig in der Wirtsstube, der Vater im Wald.
Einmal fand man das Kind bei den Schweinen im Kobel, ein anderes Mal mit den Hühnern gackern. Am liebsten war es bei den Ziegenkitzlein oder im Hasenstall, wo es – kaum gehend – den Nachwuchs mit Löwenzahn versorgte. Das Wirtspaar war ziemlich angehängt, und Großeltern gab es nicht mehr – schon gar nicht eine Tante oder Hilfskräfte, die wurden in der Gaststube oder in der Küche gebraucht. Daher bekam der Kleine einen eigenen umzäunten Garten im Hof, aus dem er – sobald unbemerkt – immer wieder ausbrach, um die geliebten Tiere zu füttern.
Eines Tages aber war er ganz verschwunden – und das in einem kurzen unbemerkten Augenblick um die Mittagszeit. Die Mutter starr vor Schreck, der Vater weit weg bei der Arbeit. Das halbe Dorf machte sich auf die Suche, um das Kind wieder nachhause zu holen – allein es gab keinen Laut und keine Spur. Der Bachverlauf beim Badwirt wurde ebenso abgesucht wie die Hofställe und das ganze Umfeld, das Dickicht, die nasse Au – es war vollkommen still. Der Himmel hatte sich verdunkelt, der Wind gelegt, die Vögel waren verstummt, wie gelähmt die Mutter, ihr einziges Kind war weg.
Die Sorge war groß, der Bub könnte in die Drau gefallen sein. Während der Schneeschmelze trat der Fluss immer wieder über die Ufer, überfüllte die mäandernden Lauen und Nebenarme und überschwemmte weite Teile des fruchtbaren Talbodens. Lange blieben die Wasserlacken stehen und waren für die Kinder der Umgebung beliebter Spielplatz, mit Myriaden an Kaulquappen, Amphibien, Insekten und Libellen im Sommer, mit winzigen Fischen und dicken Kröten. Doch keine Spur von dem Kind.
Auch vom Kreuzberg, von der Granglitzen, vom Brennach und Kojlach herunter durch das poröse Tuffgestein an der Landstraße nach Bruggen und von dort Richtung Amlach und Greifenburg, bündelten sich Wasserquellen zu Rinnsalen und kleinen Bächen, die von den Bauern in tiefen Rundbrunnen aufgefangen wurden, um ihre Wirtschaft so über den oft trockenenen Sommer zu bringen. Und einer dieser gemauerten Brunnen – etwa 600 Fuß östlich vom Badwirt – war offenbar so attraktiv für den kleinen Michael, dass er ihn schnurstracks erklomm und – in die Tiefe stürzte.
Am Nachmittag – gegen drei Uhr – nachdem alles vergebens abgesucht war – fand ein Waisinger-Knecht den Buben im Brunnen. Dabei kam dem Handlanger seine Spinnerei für technische und optische Spielwerke zugute, wie seine aberwitzigen Hausleute bemerkten. Er ging von Brunnen zu Brunnen und lenkte mit seinem Taschenspiegel das Sonnenlicht in die Tiefe, um sich ein Bild von den Verhältnissen zu machen. Und siehe da – im Brunnen auf dem späteren Klostergarten – lag das Kind im knietiefen Wasser, völlig regungslos und starr vor Kälte.
Der Knecht sprang hinab und barg den Buben, der Pfarrer war auch schon zugegegen, um die vorbereiteten Sterbesakramente zu spenden. So gering war die Hoffnung noch, den Michel ins Leben zurückzuholen. Das Kind hatte ob der langen Dauer im Wasser das Bewusstsein verloren, der Puls war kaum noch zu spüren, das Herz stand still. Sofort begann die herbeigerufene Kinderfrau und Amme mit der Wiederbelebung, mit Klopfen und Schütteln, und es half ihr dabei, dass sich die schwarzen Gewitterwolken verzogen und die Sonne wieder zum Vorschein kam und den kleinen Körper erwärmte.
Die Kunde von der wundersamen Rettung des Michelele verbreitete sich im Nu, von Waisach bis Greifenburg, über das ganze Drautal Richtung Ortenburg bei Spittal, wo Fürst Porcia dem Orden der Hieronymitaner um die Jahrhundertwende 1700 ein Kloster gestiftet hatte. Viele Jahre später, im besagten Stiftungsjahr 1737 für Waisach, lag Graf Leopold Orsini-Rosenberg auf dem Sterbebett und verfügte – wie Porcia – seinen letzten Willen – ein Kloster für Waisach – als Dank für sein reiches Leben und gute Tat für den Hieronymitaner-Orden des Petri von Pisa, der über Wolfgang Holzer (Pater Onuphrius) nach Kärnten kam.
Die Hieronymusquelle
Als die Mönche des Ordens 1746 an die Arbeit und an den Bau des Klosters unterhalb der Pfarrkirche St. Nikolaus in Waisach gehen wollten, forderten die Anwohner, das künftige Klostergebäude am Ort der wundersamen Kindesrettung zu erbauen – also in den Waisacher Feldern auf dem Kalktuffstock direkt über dem alten Brunnen nahe dem Badwirt von Bruggen. So kam es, dass die Bauarbeiten vom Ortszentrum hinaus auf die Wiese verlegt wurden und der bisher namenlose Brunnen – in Erinnerung an den kleinen Michelele – dem Hl. Hieronymus geweiht wurde.
Von da an erfolgten alle Kindestaufen der Gegend im Kloster Waisach – und es wird davon berichtet, dass dort seither keine Kinder mehr verstoben oder verunglückt sind. Die zahlreichen Mineralquellen von Waisach wurden in späterer Zeit mehrfach wissenschaftlich untersucht und dokumentiert, sie zählen nicht nur zu den wasser- und mineralreichsten Quellen Österreichs, sondern sind heute auch Heimat der reichsten und größten Forellenzucht Oberkärntens.